Neuvermessung menschlicher
Entscheidungen
Wissenschaftler der Uni Magdeburg erhält ERC Advanced Grant zur Kartierung einer der komplexesten geistigen Fähigkeiten des Menschen
Der Europäische Forschungsrat (ERC) hat dem Neurowissenschaftler und Mediziner Prof. Dr. med. habil. Markus Ullsperger vom Institut für Psychologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg einen mit 2,5 Millionen Euro dotierten ERC Advanced Grant bewilligt und damit seinem Forschungsprojekt „The Medial Frontal Cortex in Cognitive Control and Decision Making: Anatomy, Connectivity, Representations, Causal Contributions (MediCoDe)“ internationale wissenschaftliche Exzellenz bescheinigt. Prof. Markus Ullsperger ist damit einer von europaweit 209 exzellenten Wissenschaftlern, die mit insgesamt 509 Millionen Euro vom ERC in dieser Form gefördert werden.
Über die nächsten fünf Jahre werden Ullsperger und sein Team mit neuen Methoden, wie der Hirnstimulation mittels Ultraschalls, die neuronalen Mechanismen aufdecken, mit denen unser Gehirn es schafft, Entscheidungen und Handlungen an auftretende Hindernisse anzupassen. So sollen auch neue Ansätze bei der Diagnostik von psychischen Störungen erprobt werden, die wiederum künftig neue therapeutische Möglichkeiten eröffnen. Langfristiges Ziel ist es, Ursachen von Fehlanpassungen bei psychischen Störungen wie der Zwangsstörung zu verstehen und künftig gezielt therapieren zu können.
„Wir leben in einer hoch komplexen, sich dynamisch ändernden Umwelt, in der wir unser Verhalten ständig überprüfen und an Veränderungen anpassen müssen“, erläutert Prof. Markus Ullsperger den Forschungsansatz. „Manchen Menschen gelingt das scheinbar mühelos, während andere sich damit schwertun.“ Diese flexible Anpassung von Entscheidungen und Handlungen an auftretende Hindernisse sei eine herausragende geistige Fähigkeit des Menschen und werde als kognitive Kontrolle bezeichnet, so Ullsperger weiter. Er und sein Team wollen nun die dahinterstehenden hirnstrukturellen und -funktionellen Mechanismen untersuchen und fokussieren sich dabei auf ein für diese Fähigkeiten besonders wichtiges Gebiet der Hirnrinde, den posterioren frontomedianen Kortex.
Bei der geplanten „Neuvermessung“ dieser Hirnstrukturen kämen, so der Neurowissenschaftler, radikal neue Forschungsansätze zum Einsatz. „Im Gegensatz zum bisherigen Standard, eine Gruppe von Versuchspersonen mit wenigen Aufgaben und Messungen zu untersuchen, wird das sogenannte ‚dense sampling‘ angewendet. Das bedeutet, die Versuchspersonen nehmen an möglichst vielen Messungen mit Kernspintomographie und Hirnstrommessungen (EEG) teil. Dadurch werden Daten über die Struktur des zu erforschenden Kortexbereichs, seine Verknüpfungen und seine Aktivitätsmuster bei einer breiten Auswahl von Aufgaben, die kognitive Kontroll- und Entscheidungsprozesse benötigen, gesammelt.“ Computergestützte Modelle und moderne Auswerteverfahren decken anschließend Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Aktivitätsmustern der kognitiven Kontrolle auf und ordnen sie einzelnen Teilgebieten im Kortexbereich zu. „Das ermöglicht eine bisher unerreichte Genauigkeit bei der Kartierung von kognitiven Funktionen und eine vollkommen neuartige Zusammenführung von Hirnstruktur und -funktion,“ erläutert Markus Ullsperger.
Um den Nachweis zu erbringen, dass ein bestimmtes Teilgebiet der Hirnrinde tatsächlich für eine bestimmte Funktion verantwortlich ist, kommt auch mit der Ultraschallstimulation eine neue Methode der gezielten Hirnstimulation zum Einsatz. Dabei wird fokussierter Ultraschall mit niedriger Energie durch die intakte Schädeldecke in den Kopf eingestrahlt und so gebündelt, dass nur in einer scharf umgrenzten Zielregion die Aktivität der Nervenzellen beeinflusst wird. „Dieses Ultraschallsignal kann nach bisherigen Erkenntnissen entweder die Aktivität der angepeilten Hirnregion dämpfen oder verstärken“, erklärt Ullsperger. Während der Stimulation führen die Versuchspersonen bestimmte kognitive Kontrollaufgaben durch. Veränderungen der Hirnaktivität beim Lösen der Aufgaben unter Ultraschallstimulation im Vergleich zum selben Experiment ohne Stimulation weisen die Notwendigkeit einer bestimmten Hirnregion für die untersuchte Funktion nach.
„Wir wollen ein neues Kapitel in der Erforschung des Gehirns und seiner Rolle beim flexiblen, zielorientierten Verhalten des Menschen aufschlagen“, so Markus Ullsperger. „Die Entwicklung der neuartigen Mess-, Analyse- und Stimulationsverfahren wird extrem anspruchsvoll, führt aber zu einem bedeutsamen Fortschritt im Verständnis der gesunden und langfristig auch der krankhaft veränderten Hirnfunktionen und gibt den kognitiven Neurowissenschaften weit über das untersuchte Thema hinaus einen deutlichen Innovationsschub, möglicherweise bis hinein in die klinische Anwendung.“ So werde zurzeit die Hochschulambulanz für psychologische Psychotherapie an der Universität Magdeburg weiter ausgebaut, um mehr Patientinnen und Patienten mit Angst- oder Zwangsstörungen und damit einhergehenden Problemen bei der Entscheidungsfindung gezielt helfen zu können. Sie wollen ihre Forschung und die Arbeit mit den Patienten eng miteinander verzahnen, um neue Erkenntnisse möglichst schnell in der Praxis einsetzen zu können.
Das European Research Council (ERC) fördert internationale Spitzenforschung in der EU. Mehr Informationen: https://erc.europa.eu/funding/advanced-grants
Kurzvita Prof. Dr. med. habil. Markus Ullsperger Nach einem Studium der Humanmedizin an der Karlsuniversität Pilsen (Tschechien) und der Humboldt-Universität zu Berlin nahm Ullsperger mit seiner Promotion (2000) und Habilitation (2006) am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig seine Forschungsarbeit auf. Von 2006 bis 2010 leitete er die Max-Planck-Forschungsgruppe Kognitive Neurologie am Max-Planck-Institut für Neurologische Forschung in Köln. 2009 wurde er zum Professor für Biologische Psychologie an der Radboud University Nijmegen, Niederlande, berufen und forschte dort am Donders Institute for Brain, Cognition and Behaviour. 2012 erhielt er den Ruf auf die Professur für Neuropsychologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, wo er zusätzlich zu seiner Forschungstätigkeit als Leiter des Lehrstuhls für Neuropsychologie und der Hochschulambulanz für psychologische Psychotherapie und aktuell als Geschäftsführender Direktor des Instituts für Psychologie der Universität Magdeburg arbeitet. Er ist Mitglied des Direktoriums des Center for Behavioral Brain Sciences (CBBS) Magdeburg und am Aufbau des gemeinsamen Standortes Magdeburg - Jena - Halle des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit beteiligt. Auf internationaler Ebene hat Prof. Ullsperger die Position des „President Elect“ und ab Herbst 2021 als Präsident der Society for Psychophysiological Research inne.
Bildunterschrift: Prof. Dr. med. habil. Markus Ullsperger Foto: Jana Dünnhaupt/ Universität Magdeburg
Pressemitteilung: OVGU